Über Amnesty wurden und werden dicke Bücher geschrieben, auch das Internet ist voll von mal mehr, mal minder interessanten Infos über Amnesty. Aber was ist wirklich wichtig? Die Einen bieten kurze, aber dafür oberflächliche Informationen an, die Anderen sehr ausführliche, aber dafür unübersichtliche…
Mit der Hilfe des Schriftstellers Urs Fiechtner haben wir uns bemüht, eine Schneise durch den Informations-Dschungel zu schlagen und alle wesentlichen Hintergrundinformationen zum Aufbau, zur Arbeitsweise und zum Selbstverständnis von Amnesty auf den Punkt zu bringen:
Inhaltsverzeichnis
Die Herkunft
Bis vor wenigen Jahren war es üblich, fast jeder ausführlicheren Beschreibung der Arbeit von Amnesty International ein und dieselbe Geschichte voranzustellen. Diese Geschichte spielt gewissermaßen im Untergrund, hat als Hauptperson einen ziemlich verärgerten Leser, der sich in einen engagierten Schreiber verwandelt, und führt schließlich zur Gründung der größten Menschenrechtsbewegung unserer Zeit. Es ist eine gleichzeitig seltsame und doch erhellende Geschichte, die mit ihrer Mixtur aus dem scheinbar Unwahrscheinlichen und dem Folgerichtigen sowohl die Lust der Anekdoten-Erzähler wie das Interesse der Analytiker wecken musste. Sie wurde deshalb oft erzählt. Vielleicht sogar zu oft – auch die besten Geschichten nutzen sich ab, wenn sie zu oft beansprucht werden. Heute spielt sie in den Publikationen über Amnesty keine Rolle mehr und wird, wenn überhaupt, nur noch am Rande behandelt. – Eigentlich schade, denn bei genauer Betrachtung sind in dieser Geschichte schon beinahe alle Elemente vorhanden, die man kennen muss, um das Wesen und die Arbeitsweise von Amnesty International zu verstehen.
In der Kurzfassung beginnt besagte Geschichte an einem – ich vermute: grauen und deprimierenden – Novembertag des Jahres 1960 in den Eingeweiden Londons. In einem Wagen der U-Bahnlinie Richtung Temple, dem Juristenviertel der Stadt, sitzt ein Rechtsanwalt namens Peter Benenson und schlägt, wie immer auf dem Weg ins Büro, die Morgenzeitung auf. Sein Auge fällt auf eine kurze Notiz, die von zwei portugiesischen Studenten handelt. In einer Kneipe in Lissabon hatten die beiden kritische Äußerungen über das Regime ihres Ministerpräsidenten Salazar fallen lassen und wurden daraufhin zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Eigentlich nichts Besonderes. Solche Vorfälle waren damals und sind noch heute derart alltäglich, dass sie für Journalisten kaum einen Nachrichtenwert haben. Vielleicht wurde diese Notiz überhaupt nur deshalb ins Blatt gerückt, weil die staatsgefährdende Regimekritik der beiden Studenten offenbar in der Hauptsache aus einem fröhlichen Trinkspruch bestanden hatte, einem Toast »auf die Freiheit« – und niemand weiß einen guten Trinkspruch besser zu würdigen als ein Engländer.
Benenson ärgert sich gewaltig. Es dürfte ihm damit nicht anders ergangen sein als vielen seiner Zeitgenossen – und nicht nur Engländern -, die an diesem Morgen dieselbe Nachricht in ihren Zeitungen gelesen hatten. Oder irgendeine ähnliche Nachricht an jedem beliebigen Morgen. Doch während andere dazu neigen, ihren Ärger mit Gefühlen der Ohnmacht zu verbinden, verlässt Benenson die U-Bahn mit dem festen Entschluss, etwas zu unternehmen. Aber was?
Es war ja nicht erste Mal, dass der Anwalt mit Menschenrechtsproblemen in Berührung gekommen war. Schon rund zehn Jahre zuvor hatte er im Auftrag britischer Gewerkschaften und der Labour Party politische Prozesse in Spanien beobachtet und daraufhin das Spanish Democrat’s Defence Committee gegründet, eine Organisation, die sich für politische Gefangene und ihre Angehörigen unter der Franco-Diktatur einsetzen sollte. In den Jahren danach hatte er sich für die Gründung einer überparteilichen Bürgerrechtsbewegung in Großbritannien und manch andere Initiativen zum Schutz der Menschenrechte eingesetzt. Er hatte durchaus einiges in Bewegung gebracht, war damit aber nicht zufrieden. Da fehlte noch etwas. Etwas Entscheidendes.
Seine bisherige Arbeit hatte zu Institutionen geführt, die nach seinem Urteil entweder keinen großen Erfolg hatten oder die sich nicht völlig unabhängig von parteipolitischen Einflüssen bewegen konnten oder die ihre Arbeitsweise so angelegt hatten, dass in ihnen nur Menschen mit entsprechenden Vorkenntnissen – Anwälte zum Beispiel mitarbeiten konnten. Die Zeit war reif für etwas anderes, etwas Neues. Benenson setzt sich mit Freunden und Kollegen zusammen. Der Kreis aus Journalisten und Juristen kommt bald überein, sich wöchentlich zu treffen, immer zur selben Zeit am selben Ort.
Genau besehen war damit schon die erste Amnesty-Gruppe entstanden, auch wenn in den folgenden Monaten der Plan einer unabhängigen, überparteilichen und von vielen Menschen getragenen Bürgerbewegung nur sehr unbestimmt und in zahllosen Varianten durch die Diskussionen geisterte. Zuletzt einigte man sich darauf, es erst einmal mit einer einjährigen Kampagne zu versuchen. In einem »Appeal for amnesty« sollte die Öffentlichkeit bewegt werden, sich für die in den Artikeln 18 und 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verkündete Gewissens- und Religions-, Meinungs- und Informationsfreiheit einzusetzen und die Freilassung von Menschen zu fordern, die in politische Haft geraten waren, weil sie von diesen Rechten Gebrauch gemacht hatten. Benenson wurde beauftragt, einen Aufruf zum Start der Kampagne zu verfassen. Er sollte in der angesehenen und einflussreichen Wochenzeitung The Observer erscheinen, die über besonders gute Kontakte zu international führenden Blättern verfügte, so dass man, eine gute Vorbereitung vorausgesetzt, mit Nachdrucken des Artikels rechnen konnte. Außerdem spielte es wohl eine Rolle, dass der Anwalt Louis Blom-Cooper, eines der Gründungsmitglieder, seinerseits über beste Kontakte zu David Astor verfügte, dem Herausgeber von The Observer – dieser Mischung aus geschickter Planung, Improvisationsvermögen und guten Kontakten wird man auch in heutigen Amnesty-Gruppen begegnen. Unter dem Titel »Die vergessenen Gefangenen« erschien Benensons Artikel am 28. Mai 1961 im Observer und, teils noch am selben Tag oder kurz darauf, in weiteren 30 Zeitungen der (westlichen) Welt, darunter Corriere de la Sera und Le Monde. Der Artikel löste eine Lawine aus. Einladungen aus der halben Welt trafen bei der Gruppe ein. Ein Vortrag von Benenson in Paris sowie Gespräche von Eric Baker mit Carola Stern, Gerd Ruge, Felix Rexhausen und anderen deutschen Journalisten in Köln führten noch im Juni zur Bildung der ersten französischen und deutschen Gruppen. Im Juli trafen sich Abgesandte von Gruppen aus 6 europäischen Ländern und den USA zur ersten internationalen Jahresversammlung in Luxemburg. In diesem Tempo ging es weiter. Schon nach wenigen Monaten war klar, dass es nicht bei einer einjährigen Kampagne bleiben würde. Aus »Appeal for amnesty«, der Bitte um Amnestie für politische Gefangene, war, zur Überraschung ihrer eigenen Geburtshelfer, eine internationale Organisation aus selbstbestimmten Gruppen und ehrenamtlichen Akteuren geworden: Amnesty International.
Seitdem gilt der 28. Mai als »Geburtstag« der Organisation, und die Sache mit dem Anwalt und der U-Bahn und dem Zeitungsartikel wird als Geschichte ihrer Gründung erzählt. Wer sie mit wachen Augen liest, wird hier viele Wesensmerkmale wiederfinden, die auch heute noch den Charakter der Organisation ausmachen. Aber sie lädt auch zu ein paar Missverständnissen ein. So ist Amnesty International alles andere als das Geschöpf eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe. Sie ist auch nicht als Organisation nach einem präzisen Plan gegründet worden, sondern vielmehr als eine Bewegung entstanden, die man nicht wirklich gründen, sondern nur um einen Kristallisationspunkt versammeln kann. In gewisser Weise war Amnesty International überall auf der Welt schon in sehr vielen Köpfen vorhanden, lange bevor zwei Studenten in einer Lissaboner Kneipe auf die Freiheit anstoßen würden. Ihre eigentliche Herkunft ist nicht in einem flammenden Zeitungsaufruf zu finden, sondern in der unendlich langen, zähen und blutigen Entwicklungsgeschichte der Menschenrechte, die, nachdem sie am 10. Dezember 1948 von den Vereinten Nationen nun endlich zu einer internationalen Erklärung zusammengefasst worden waren, immer drängender die Frage nach ihrer Verwirklichung aufwarfen. Immer mehr Menschen war klar geworden, dass die Durchsetzung und der Schutz der Menschenrechte nun nicht mehr, wie in vielen anderen Anläufen zuvor, allein den Regierungen, den Parteien oder irgendwelchen Ideologen überlassen werden durfte. Der Gedanke an überparteiliche, unabhängige Bewegungen, die über alle sozialen, kulturellen oder nationalen Grenzen hinweg nur den Menschenrechten und keinen anderen Interessen dienen durften, lag ganz einfach in der Luft. Wohl kaum eine der vielen Menschenrechtsorganisationen unserer Zeit ist nur deshalb entstanden, weil irgendjemand sich ihre Gründung in den Kopf gesetzt hätte, sondern weil es einen überwältigenden Bedarf an ihnen gab und, leider, noch immer gibt. Früher oder später wäre Amnesty International so oder so entstanden, und wenn nicht mit dieser, dann mit einer anderen Gründungsgeschichte. Aber wahrscheinlich mit einer sehr ähnlichen.
Die Organisation
In Ausstellungen über Amnesty International finden sich fast immer Schaubilder, die mit graphischen Mitteln den Aufbau der Organisation auf einen Blick verdeutlichen sollen. Das Ergebnis ist jedoch meistens unbefriedigend, das Auge des Betrachters verliert sich in einer Unzahl von Pfeilen, Linien und Kästchen. Das mag daran liegen, dass die Zeichner solcher Organigramme die klassischen Führungsstrukturen von Wirtschaftsunternehmen, Parteien oder Staaten gewöhnt sind und automatisch versuchen, auch den Aufbau von Amnesty anhand der üblichen Pyramidenform zu Papier zu bringen: an der Spitze die Leitung, unten die Basis. Aber bei Amnesty funktioniert das anders. Man müsste eine Pyramide zeichnen können, deren Spitze identisch mit der Basis ist oder ein Gebäude, dessen Fundament im Penthouse sitzt.
Das Fundament besteht heute aus über 3 Million Mitgliedern und Förderern in über 150 Ländern der Welt. In weit über 100 Ländern haben sich Mitglieder zu mehr als 7500 lokalen Arbeitsgruppen zusammengefunden, die häufig als Kern und Motor der Organisation beschrieben werden.
In Ländern, in denen es eine größere Anzahl von Gruppen gibt, schließen sie sich zu weitgehend eigenständigen Ländersektionen zusammen. Auf der Weltkarte findet man heute zwischen A wie Algerien und Z wie Zypern 53 Sektionen, weitere 8 sind im Aufbau. Gut vertreten sind Deutschland mit rund 650, Österreich mit 80 und die Schweiz mit 75 Gruppen. Die Spitze der Organisation könnte man fast mit demselben kurzen Ausflug in die Statistik beschreiben. Amnesty International ist eine demokratische Bewegung, deren Politik nicht von einer zentralen Führungsetage bestimmt wird, sondern von ihren Mitgliedern selbst. Alle wesentlichen Entscheidungen über die Ziele und Arbeitsweise von Amnesty entstehen in einem Netzwerk von kleinen und großen Mitgliederversammlungen, wobei jeder Teil von Amnesty – also zum Beispiel eine Gruppe – über die eigenen Angelegenheiten allein entscheidet und andere Anliegen an die nächsthöhere Mitgliederversammlung weitergibt. Auch die Führung der Ländersektionen liegt allein in den Händen der meist jährlichen Treffen ihrer Mitglieder. Diese Jahres- oder Generalversammlungen wählen einen ehrenamtlichen Vorstand, dessen Befugnisse jedoch sehr begrenzt sind. Generell haben alle »Ämter«, die es bei Amnesty gibt, nur die Funktion, Entscheidungen und Aufträge der Mitgliedschaft auszuführen und das Tagesgeschäft zwischen den Versammlungen zu ordnen. Das höchste Gremium von Amnesty ist die Internationale Ratstagung, zu der alle Sektionen gewählte Vertreter aus der Mitgliedschaft entsenden. Sie wählt den internationalen Vorstand von Amnesty, Internationales Exekutivkomitee genannt, der nach bewährtem Muster ebenfalls ehrenamtlich arbeitet und an die Beschlüsse des Rates gebunden ist.
Die Menschen
»… damals im Gefängnis haben wir alle den Begriff ‘Amnesty International’ gekannt und auch ungefähr gewusst, wofür Ihr eintretet. Ihr wart für uns etwas Wichtiges und Bedeutendes, aber auch etwas, das vielleicht zu wichtig und zu bedeutend war, um sich an uns kleine Leute zu erinnern. Manchmal spürten wir aber eure unsichtbare Anwesenheit – es gab Gerüchte, dass sich draußen etwas für uns tat, es gab geschmuggelte Briefe und geklopfte Nachrichten von Zelle zu Zelle.
Vieles aber verstanden wir nicht genau: dass es irgendwo da draußen in der Welt Menschen geben sollte, die unser Leben verteidigten, ohne selbst einen Nutzen daraus zu ziehen, erschien uns seltsam und fast ein bisschen unglaubwürdig. Ich dachte an amnesty, wie man an eine große Maschine denkt, an einen Apparat, riesengroß, mit Friedensnobelpreis und allem Drum und Dran, aber anonym, unpersönlich, nicht aus Fleisch und Blut.
Erst als ich meinen ersten Brief von euch erhielt und in meiner Zelle versuchte den fremden, zungenbrecherischen Namen des Absenders auszusprechen, begann ich mir Gedanken über die Menschen von Amnesty International zu machen. Das war nicht leicht. Ehrlich gesagt, hab ich zuerst an einen Verein von frommen Betbrüdern gedacht, die eine Kerze für die Verfolgten anzünden und an das Gute im Menschen glauben und den lieben Gott freundlich bitten, er möge doch die Gefangenen rauslassen. Danach dachte ich an einen Haufen von weißhaarigen alten Damen, aber ich konnte mich nicht entscheiden, ob das welche sein sollten, die Bettsocken für frierende politische Gefangene stricken, oder solche, die mit ihren Regenschirmen entnervte Diktatoren verprügeln wollen.
Irgendwie konnte das alles nicht stimmen, deswegen stellte ich mir später effiziente Herren in grauen Anzügen vor, die mit schwarzen Aktenköfferchen in der Hand bei den Vereinten Nationen aus- und eingehen und wie Börsenmanager mit Generälen verhandeln, oder jene bestimmte Art von Frauen in streng geschnittenen Kostümen, die im Business-Ton einem Staatsoberhaupt ihre Bedingungen auf den Tisch knallen, schmallippig und strebsam und irgendwie gefährlich.
Das passte aber nicht zu dem Ton in euren Briefen. Der war immer nüchtern, sachlich, vernünftig, aber ich glaubte, dahinter noch etwas anderes zu spüren. Deshalb entschloss ich mich, nun an junge, rebellische Typen in Jeans zu denken, an bärtige Kerle und an Mädchen ohne Make-Up, an Mitstreiter also, an Gefährten, die unseren politischen Kampf auf ihre Weise führen und die unsere Fahnen in ihren Händen tragen. Doch dann habe ich bald gelernt, dass euch die Farbe meiner Fahne ziemlich wurscht ist und eure Farben nur die der Freiheit und der Menschenwürde sind. Das hat mich dann endgültig verwirrt. Zuletzt hab ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen können, was für Menschen Ihr seid.
Heute bin ich auch nicht schlauer geworden, obwohl ich ein paar von euch nach der Freilassung am Flughafen kennengelernt habe: Da waren ältere Herren, aber die sahen nicht sehr fromm aus; da waren weißhaarige Damen, aber die trugen weder Stricknadeln noch Regenschirme, sondern wache politische Köpfe; da waren Leute, die sahen wie Computer-Verkäufer aus, aber sie trugen keine Aktenköfferchen, sondern Transparente und Blumensträuße in den Händen; da war sogar ‘n Typ in Uniform, aber der hat mich nicht verhaftet, sondern umarmt. Und die schwarzen Aktenköfferchen und diesen besonderen Hauch der Tüchtigkeit trugen dafür einige Jungs mit Bart und groben Pullovern oder Frauen in Jesus-Latschen und mit langen Haaren.
Einige von euch sahen so aus wie Leute, die man bei einer Demonstration in meinem Land als erste verhaften würde. Andere sahen aus wie Leute, die solche Verhaftungen anordnen und wieder andere sahen so aus wie die Menschen, denen das alles immer scheißegal ist und die tatenlos zusehen.
Man wird nicht schlau aus euch. Ihr seht so aus, wie alle Menschen aussehen. Eigentlich gibt es nichts Besonderes an euch. Ihr scheint ein beliebiger Querschnitt durch die Bevölkerung eures Landes zu sein. Aber Ihr habt einen Teil eures Lebens dafür gegeben, einen wildfremden Menschen aus dem Gefängnis zu holen. Seltsam. Ihr seid alle total verschieden und arbeitet doch gemeinsam. Sehr seltsam. Es gibt so vieles, was euch untereinander trennen müsste, aber Ihr habt euch doch wie ein einziger Körper an meine Seite gestellt, als ich glaubte zu sterben. Mehr als seltsam.
Ich verstehe das alles immer noch nicht, aber es gefällt mir. Weißt du, ich glaube, Ihr müsst alle irgendwie ziemlich verrückt sein, liebenswert, aufrecht, unbegreiflich und total verrückt. Aber sonst ganz normal …«
Es ist schon ein paar Jahre her, dass diese Zeilen geschrieben wurden. Sie stammen von einem ehemaligen politischen Gefangenen aus einem der vielen Haftlager und Gefängnisse Südamerikas. Gerichtet waren sie an eine Amnesty-Gruppe im süddeutschen Ulm, die sich jahrelang für seine Freilassung eingesetzt und schließlich die Aufnahme in ein europäisches Land arrangiert hatte. Die Amnesty-Gruppe veröffentlichte den Text in einer kleinen Zeitschrift und vergaß ihn bald wieder. Aber der Text entwickelte ein Eigenleben. Immer wieder wurde und wird er in Publikationen oder Vorträgen von und über Amnesty zitiert.
Das mag daran liegen, dass sein Ton sich wohltuend von der nüchternen, ja nahezu unterkühlten Sprache abhebt, in der die Organisation sonst über ihre Arbeit berichtet. Oder daran, dass viele Mitglieder sich hier in einem Anflug von Selbstironie wiedererkennen und sich durchaus im Klaren sind, dass man in der vom Markt gelenkten und von Egozentrik geprägten Kultur unserer Tage in der Tat ein bisschen »verrückt« sein muss um seine Zeit und Kraft noch in etwas anderes zu investieren als nur in das eigene Fortkommen. Oder ganz einfach daran, dass eine Menschenrechtsbewegung nicht verstanden werden kann, ohne einen Blick auf die Menschen zu werfen, die sie bewegen.
Vielleicht lässt sich die Erfolgsgeschichte, die erstaunliche Kombination aus beharrlicher Langlebigkeit und immer wieder erneuerter Frische, die ungebrochene Agilität und Attraktivität der Organisation auch gar nicht besser erklären als mit der enormen Vielfalt individueller Persönlichkeiten, aus denen sie sich zusammensetzt. Anders als eine Partei oder eine weltanschauliche Glaubensgemeinschaft ist Amnesty International kein Verein, in dem nur »Gleichgesinnte« ihren Platz finden würden. Ganz im Gegenteil wird das gemeinsame Anliegen, also die Durchsetzung der Menschenrechte, sehr bewusst immer nur als der kleinste gemeinsame Nenner gesehen, auf den sich auch ansonsten sehr »ungleich Gesinnte« verständigen können. Das sorgt ganz automatisch für ein Spektrum, in dem fast alle Farben vertreten sind, und hebt gleichzeitig auch all die anderen kleinen und großen Grenzen auf, die Menschen unter sich gezogen haben. Die »Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 hat diese Haltung in ihrer Sprache vorgegeben. Im Artikel 2 heißt es: »Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen.« Da die Menschenrechte »ohne irgendeine Unterscheidung« für alle Menschen gelten, ist es nur folgerichtig, dass eine Organisation, die sich für die Durchsetzung der Menschenrechte einsetzt, für alle Menschen – »ohne irgendeine Unterscheidung« – offen sein muss. Bei Amnesty International findet man diese Offenheit. Das mag manchmal anstrengend sein für diejenigen, die nach sozialer Nestwärme suchen und sich am liebsten unter ihresgleichen bewegen, aber es ist ein beinahe ideales Umfeld für wache Köpfe, die nach Anregungen suchen und ihren Horizont erweitern wollen.In dieser dezentralen, strikt demokratischen und auf sehr vielen Schultern ruhenden Struktur steckt eines der Erfolgsgeheimnisse von Amnesty International. Eine Menschenrechtsorganisation kann ihre Anliegen nur dann glaubwürdig vertreten, wenn sie Einflussversuchen von Außen widersteht und ihre Unabhängigkeit gegenüber Parteien, Konfessionen, Ideologien und natürlich Regierungen garantiert. Es genügt nicht, Unabhängigkeit nur anzustreben, man muss sie auch absichern. In die dezentrale Demokratie einer sich selbst steuernden Mitgliederorganisation ist die politische Absicherung gewissermaßen schon eingebaut – der Aufwand, hier von Außen Einfluss nehmen zu wollen, wäre selbst für die sehr Mächtigen dieser Erde viel zu groß. Das gilt auch für die sehr Reichen: Die Organisation finanziert sich ausschließlich durch Spenden aus der Bevölkerung. Damit sind kleine Spenden gemeint. Sehr große Summen, die einen wesentlichen Anteil am Etat einer Gruppe oder gar einer Sektion ausmachen würden, werden ebensowenig angenommen wie Beiträge von Regierungen. Spenden, an die irgendwelche Bedingungen geknüpft sind, werden generell abgelehnt.
Die Knoten im Netzwerk der Organisation bilden hauptamtlich besetzte Sekretariate. Die meisten Fäden laufen im Internationalen Sekretariat in London zusammen. Hier werden Informationen über Menschenrechtsverletzungen aus aller Welt von einem bunt gemischten, international zusammengesetzten Stab aus ca. 500 hauptamtlichen und 100 ehrenamtlichen Expertinnen und Experten gesammelt, geprüft, ausgewertet und schließlich an die Ländersektionen oder direkt an die Gruppen geleitet. Weitere knapp 600 Angestellte verteilen sich über die Sekretariate der Sektionen und die Verbindungsbüros, die Amnesty zu großen zwischenstaatlichen Organisationen wie der UNO oder der EU unterhält. In vielen Veröffentlichungen wird der hauptamtliche Apparat, besonders das Internationale Sekretariat, immer wieder gerne als »der Kopf« von Amnesty International vorgestellt. Ganz falsch ist dieser Vergleich nicht. In der Tat sind die Sekretariate Nervenknoten im Netzwerk und haben eine wesentliche Rolle bei der Koordination der vielen Glieder, aus denen die Organisation besteht. Den führenden Kopf der Organisation findet man jedoch nicht in ihren kleinen oder großen Zentralen, sondern auf den Schultern ihrer Mitgliedschaft.
Die Ziele
Die Frage nach den Zielen von Amnesty International lässt sich auf mehreren Wegen beantworten. Der einfachste Weg liegt in einem Blick auf die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. Dieses kurze und einprägsame Dokument lässt sich sowohl als Auflistung wie als Definition aller grundlegenden Rechte lesen, auf die sich die Kulturen und Nationen der Welt nach einer hunderte von Jahren währenden Entwicklung geeinigt haben. Allerdings handelt es sich hier nur um eine Willenserklärung oder, um es mit den Worten der UNO zu sagen, um das »von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal«. Von der Verwirklichung der Menschenrechte ist die Welt noch immer weit entfernt.
Eben die Verwirklichung der Menschenrechte, ihre Durchsetzung in allen Ländern der Welt ist das umfassende politische Ziel von Amnesty International. Die Organisation versteht sich dabei, gemeinsam mit anderen nichtstaatlichen Verbänden und Initiativen, als Teil einer weltweiten Menschenrechtsbewegung, die mit den Vereinten Nationen und anderen zwischenstaatlichen Einrichtungen zusammenarbeitet.
Amnesty International setzt sich für die Durchsetzung aller in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formulierten Rechte ein. Besonders engagiert sich Amnesty
- gegen Folter, Todesstrafe, politischen Mord, grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe und das “Verschwindenlassen” von Menschen,
- für die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen und die Bestrafung der Täter,
- für die Freilassung gewaltloser politischer Gefangener, die aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, Sprache, Religion oder Überzeugung inhaftiert sind,
- für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern,
- für den Schutz von MigrantInnen, Flüchtlingen und Asylsuchenden,
- für den Schutz der Menschenrechte in bewaffneten Konflikten,
- für eine wirksame Kontrolle des Waffenhandels,
- für den Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt und Unterdrückung,
- für die Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte,
- für den Eingang der Menschenrechte in internationale sowie regionale Vereinbarungen und Konventionen,
- für faire und zügige Gerichtsverfahren, insbesondere bei politischen Gefangenen,
- für Programme zur Menschenrechtserziehung und zur Förderung des Bewusstseins für die Menschenrechte ,
- für die Zusammenarbeit von nichtstaatlichen Organisationen, den Vereinten Nationen und regionalen zwischenstaatlichen Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte
Bei alledem ist Amnesty International wohl eine überaus beharrliche, aber keineswegs unbewegliche Organisation. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit und die Definition ihrer Ziele werden immer wieder neu durchdacht, verfeinert und erweitert. Das Mandat der Organisation, also ihr Aufgabenkatalog, unterliegt einer ebenso andauernden wie pragmatischen und nüchternen Diskussion, in der keine Wunschvorstellungen oder Ideale entscheiden, sondern die schiere Notwendigkeit und die realistische Einschätzung der eigenen Kräfte.
Gefordert wird nur, was auch mit eigenen Mitteln gefördert werden kann. Die Ziele der Organisation sind daher niemals so hoch gesteckt, dass man sie nicht erreichen könnte.
Der vielleicht kürzeste Weg, die Ziele von Amnesty International zusammen zu fassen, findet sich in einem einzigen Satz: »Sie können Ihre Zeitung an jedem x-beliebigen Tag der Woche aufschlagen, und Sie werden einen Bericht über jemanden finden, der irgendwo in der Welt gefangen genommen, gefoltert oder hingerichtet wird, weil seine Ansichten oder Religion seiner Regierung nicht gefallen.«
Dieser Satz wurde vor über einer Generation geschrieben und stand am Anfang jenes Zeitungsartikels vom 28. Mai 1961, der heute als Gründungsaufruf der Organisation angesehen wird. Seitdem hat sich sehr viel getan, und doch könnte man mit derselben Feststellung, ohne ein Wort zu verändern, auch heute noch einen Bericht über die Lage der Menschenrechte beginnen. Manchmal geschieht das auch. Das wesentliche Ziel von Amnesty International ist es ganz einfach, diesem Satz seine penetrant andauernde Gültigkeit zu nehmen und ihn nie wieder zitieren zu müssen – außer ein letztes Mal, als historischen Rückblick auf barbarische Zeiten, in ihrem Abschlussbericht. Aber auf den wird man wohl noch ein Weilchen warten müssen.
Die Arbeitsweise
Irgendwo auf der Welt wird irgend ein Mensch verhaftet, weil – um es mit den einfachen Worten aus dem Gründungsaufruf von Amnesty zu sagen – »seine Ansichten oder Religion seiner Regierung nicht gefallen«. Dieser Mensch wird verhaftet, weil seine Regierung ein abschreckendes Beispiel geben und einen vermeintlichen »Unruheherd« von der Straße schaffen und in einer Zelle isolieren will. Insgesamt besteht das Ziel jeder politisch motivierten Verhaftung immer darin, jenen Zustand zu erreichen, den solche Regierungen mit »Ruhe und Ordnung« umschreiben. Also das Schweigen im Land, das manche brauchen um ihre Interessen durchzusetzen oder den Machterhalt abzusichern. Der Aufwand, den ein entsprechender Gefängnis- und Verfolgungsapparat kostet, fällt im Vergleich zum erwarteten Nutzen gering aus. Die Verhaftung eines einzelnen Menschen fällt sowieso nicht ins Gewicht. So scheint es jedenfalls. Für eine Weile. Eines Tages aber treffen Anfragen nach dem Schicksal jenes verhafteten Menschen bei Regierungsstellen ein. Erst einige, dann viele, dann sehr viele aus immer mehr Ländern der Welt. Untergeordnete Behörden fragen bei ihren Vorgesetzten an, wie sie darauf reagieren sollen. Der Pressedienst des Auswärtigen Amtes stellt eine Mappe mit ausländischen Zeitungsartikeln über den Gefangenen zusammen. Verwaltungsvorgänge entstehen. Die Botschaften der Regierung berichten über Anfragen und Proteste aus der Bevölkerung ihrer Gastländer und möchten wissen, wie sie damit umgehen sollen. Ausländische Diplomaten erkundigen sich routinemäßig nach der Einhaltung internationaler Verträge zum Schutz der Menschenrechte und reichen die üblichen Listen mit Nachfragen zu Einzelfällen über den Tisch – auf den Listen steht ein neuer Name. Der Gefängnisdirektor lässt sich die Akte eines Insassen kommen und fühlt im Innenministerium vor, ob es Richtlinien zur Behandlung prominenter Gefangener gibt. Die Vertretung des Landes bei der UNO stellt ein weiteres Mal ihr Faxgerät ab und ändert ihre E-Mail-Adresse. Mehr und mehr Verwaltungsvorgänge entstehen und müssen bewältigt werden, ohne den normalen Betrieb der Behörden zu beeinträchtigen. Mehr und mehr beginnen die Kosten den Nutzen zu übersteigen. Mehr und mehr wird das Schweigen im Lande durch Rufe von außen gestört. Man hatte einen Menschen hinter Schloss und Riegel gebracht um ihn aus der Welt zu schaffen. Aber jetzt besucht ihn die Welt in seiner Zelle. Aus dem einzelnen »Unruheherd« sind viele geworden. Die Rechnung geht nicht mehr auf…
So ungefähr könnte man die Arbeitsweise von Amnesty International in kurzen Worten umschreiben. Die Organisation begnügt sich nie damit, Menschenrechtsverletzungen nur festzustellen oder zu beklagen, sondern sucht immer, im Kleinen wie im Großen, nach praktischen Wegen um (neue) Menschenrechtsverletzungen zu verhindern und den Opfern zu helfen. Und fast immer führt mindestens einer dieser Wege über die Erzeugung öffentlichen Drucks auf die Verantwortlichen.
Jeder Weg beginnt mit der Ermittlung und der Absicherung von Fakten. Die gesamte Organisation steht und fällt mit der Zuverlässigkeit ihrer Informationen und steckt daher ebenso viel Aufwand wie Sorgfalt in ihre Recherchen. In der Ermittlungsabteilung des Internationalen Sekretariates werden Medienberichte aus aller Welt ausgewertet, dazu Stellungnahmen von Regierungen, Berichte von Rechtsanwälten, lokalen Bürgerrechtsgruppen oder Gewerkschaften, Aussagen von ehemaligen Gefangenen, von Flüchtlingen, von Angehörigen inhaftierter Menschen oder von Augenzeugen und zahllose andere Quellen. Außerdem sind ständig Amnesty-Delegationen unterwegs, die – übrigens immer ganz offiziell – Ermittlungen an Ort und Stelle durchführen, Prozesse beobachten, Gespräche mit Regierungsvertretern, Oppositionellen und lokalen Menschenrechtsgruppen führen oder Gefangene befragen. Die Vielzahl voneinander unabhängiger Quellen und die genaue Prüfung jedes einzelnen Hinweises durch erfahrene Fachleute führt am Ende zu genauen und zuverlässigen Informationen, kostet aber auch Zeit. Die Organisation wird deshalb bei aktuellen Krisen und Konflikten nicht in jedem Fall mit schnellen öffentlichen Stellungnahmen auf Medienberichte reagieren, sondern erst einmal eigene Recherchen in Gang setzen und geeignete Gegenmaßnahmen entwickeln, bevor sie mit präzisen Vorschlägen an die Öffentlichkeit geht. Umgekehrt werden aber, häufig genug, viele alltägliche Menschenrechtsverletzungen erst durch Amnesty International ans Licht gebracht.
Schon allein die stetige Ermittlung und Veröffentlichung von Menschenrechtsverletzungen kann einen gewissen Veränderungsdruck erzeugen. Die Organisation verlässt sich jedoch nicht darauf, sondern setzt ihre Infonnationen so oft wie nur möglich in direkte und praktische Hilfe für die Opfer um.
Das »klassische«, nämlich älteste und nach wie vor beste Beispiel dafür findet man in der oft langfristigen Betreuung einzelner politischer Gefangener durch eine oder mehrere der über die ganze Welt verteilten Amnesty-Gruppen. Die Gruppe erhält aus dem Internationalen Sekretariat eine Fallakte mit allen notwendigen Informationen, einigen Vorschlägen für die ersten Schritte der Arbeit und einem klaren Auftrag. Sie wird nun beginnen, sich an Regierungsvertreter, Gefängnisbeamte, Richter, Diplomaten, Journalisten zu wenden, kurzum an alle, die in irgendeiner Form Einfluss auf das Schicksal des Gefangenen nehmen könnten. Die Art ihrer Arbeit – und oft genug der Erfolg – wird allein von der Phantasie und der Ausdauer der Gruppenmitglieder bestimmt. Meistens werden sie versuchen, möglichst viele Kontakte zu knüpfen und möglichst viele Menschen auf den Fall aufmerksam zu machen, um den Druck zu verstärken.
Allerdings ist der Druck auf zuständige Behörden noch längst nicht alles. Wenn es notwendig ist, wird die Gruppe alles tun um das Leben des Gefangenen und seiner Angehörigen zu erleichtern. Sie kann den Lebensunterhalt der Familie absichern, einen Rechtsanwalt finanzieren oder sich um medizinische Versorgung bemühen. Und sie kann, im besten Fall, dem Gefangenen nach seiner Freilassung helfen, im normalen Leben wieder Fuß zu fassen. In gewissem Sinne ist die Gruppe für den von ihr betreuten Gefangenen verantwortlich und arbeitet selbstständig, ist jedoch nicht auf sich allein gestellt. Auf Wunsch wird sie handfeste Hilfe von anderen Teilen der Organisation bekommen oder kann sich von Experten aus besonders spezialisierten Gruppen beraten lassen.
Wenn die Situation eines politischen Gefangenen oder eines anderen Opfers von Menschenrechtsverletzungen ein besonders massives oder besonders schnelles Eingreifen erfordert – etwa bei Folterungen oder einer drohenden Hinrichtung -, belässt es die Organisation nicht bei dem Einsatz einer einzelnen Gruppe, sondern aktiviert eines ihrer Aktionsnetze. Tausende von Mitgliedern, Gruppen und Unterstützern der Organisation in aller Welt erhalten Informationen über den Fall und werden gebeten, sich mit Briefen und Telefaxen, e-mails oder Telefonaten an Regierungsstellen zu wenden. Bei Eilaktionen (»urgent actions«), die in jedem Jahr für rund 1000 Fälle gestartet werden müssen, geschieht dies innerhalb von 48 Stunden.
Sehr massiv kann der öffentliche Druck auf Regierungen werden, wenn die Organisation ihre Kräfte in weltweiten Kampagnen bündelt, die entweder weit verbreitete Formen von Menschenrechtsverletzungen aufgreifen oder sich auf die Lage der Menschenrechte in einem bestimmten Land konzentrieren. Auch hier können Einzelfälle im Vordergrund stehen, das generelle Ziel solcher Themen- und Länderkampagnen liegt jedoch in der umfassenden Ächtung von Verfolgungsformen (zum Beispiel Folter, Todesstrafe, staatlicher Mord, »Verschwindenlassen«) und in der Abschaffung von Gesetzen, die Menschenrechtsverletzungen ermöglichen.
Bei alledem ist sich die Organisation sehr wohl bewusst, dass es nicht genügen würde, an die Vernunft oder gar das Gewissen der Regierungen zu appellieren oder sich allein auf ein Dokument zu berufen, das ursprünglich nur als unverbindliche Willenserklärung und nicht als verpflichtendes internationales Recht gemeint war. Die rechtliche Verankerung der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« von 1948, ihre beständige Weiterentwicklung und Umsetzung in verpflichtende zwischenstaatliche Verträge gehört daher, von der Öffentlichkeit meist unbemerkt, zu den wichtigsten Arbeitsfeldern von Amnesty International. Hochqualifizierte Abgesandte der Organisation haben beratenden oder beobachtenden Status bei der UNO, der Organisation Amerikanischer Staaten, der Afrikanischen Union und allen anderen wichtigen zwischenstaatlichen Gremien auf internationaler oder regionaler Ebene und bringen auf zahllosen Kanälen Initiativen zur Durchsetzung bestehender Konventionen und zur Entwicklung neuer Standards auf den Weg.
Schon ein kurzer und oberflächlicher Blick auf nur wenige Arbeitsformen von Amnesty International genügt um ein wesentliches Merkmal ihrer Arbeitsweise zu finden. Einen großen, vielleicht den größten Teil ihrer Erfolge verdankt die Organisation ihrer Fähigkeit, Mitarbeitsmöglichkeiten »für alle« zu schaffen und gleichzeitig sowohl einfache (aber effiziente) wie anspruchsvolle Aufgaben anzubieten. Es bleibt allein den Mitgliedern überlassen, ob sie wenig oder viel Zeit für ihre Mitarbeit aufbringen können und wollen. Ohne irgendwelche Vorkenntnisse oder eine Ausbildung kann jeder sofort in die Arbeit einsteigen. Wer will, kann sich spezialisieren, und wer berufliche Erfahrung einbringen möchte, wird dafür ein passendes Arbeitsgebiet finden. Im Netz der Arbeitstechniken von Amnesty hat jede Aufgabe, die ein Mitglied allein oder gemeinsam mit anderen übernimmt, dasselbe Gewicht.