Ulmer Gruppe wird 40 Jahre alt

In diesem Herbst wird unsere Ulmer Amnesty-Gruppe 40 Jahre alt.  Gegründet wurde sie 1973 von einem Ulmer Schüler, der dafür von der Schule flog  –  weil damals sehr viele ordentliche Leute Menschenrechte für eine erschreckend rebellische Angelegenheit hielten, die man bekämpfen muss. Nicht Wenige sehen das heute immer noch so.  Der Schüler von damals ist heute ein bekannter Schriftsteller.  Vor zwei Jahren, zum 50. Jahrestag der Gründung von Amnesty International, wurde er gebeten, die Gründung seiner/unserer Gruppe in einer bewegten Zeit zu beschreiben.

In diesem Herbst wird unsere Ulmer Amnesty-Gruppe 40 Jahre alt.  Gegründet wurde sie 1973 von einem Ulmer Schüler, der dafür von der Schule flog  –  weil damals sehr viele ordentliche Leute Menschenrechte für eine erschreckend rebellische Angelegenheit hielten, die man bekämpfen muss. Nicht Wenige sehen das heute immer noch so.  Der Schüler von damals ist heute ein bekannter Schriftsteller.  Vor zwei Jahren, zum 50. Jahrestag der Gründung von Amnesty International, wurde er gebeten, die Gründung seiner/unserer Gruppe in einer bewegten Zeit zu beschreiben. Seine Erzählung  geben wir hier wieder  – sie ist ein  erhellendes Beispiel dafür, wie “verdächtig” der Einsatz für die Menschenrechte damals in (West-)Deutschland war und in viel zu vielen Ländern der Welt heute noch immer ist….

Unsere Gruppe war nicht die erste in Ulm.    Schon 1967/68 ist eine erste Amnesty-Gruppe in Ulm auf Initiative des Ulmer Politikers (und späteren MdL) Eberhard Lorenz gegründet worden.  Sie bestand aus renommierten Ulmer Bürgern und arbeitete erfolgreich bis in die 80’er Jahre, musste dann aber aus Mangel an aktiven Mitgliedern aus der Bürgerschaft geschlossen werden.   Unsere heutige Amnesty-Gruppe hat ihr Erbe übernommen und die Arbeit  für die Menschenrechte auf alle Schichten der Bevölkerung ausgeweitet.

 

Urs M. Fiechtner:

Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll – and Amnesty ?

Es ist schon eine Ewigkeit her, aber gefühlt war es eigentlich erst gestern, als ein vor Empörung schwitzender und vor Zorn purpurrot leuchtender Deutschlehrer türenknallend in die 11. Klasse eines Ulmer Gymnasiums stürmte. Er hatte die Zeitung gelesen: Einer seiner Schüler hatte zur Gründung einer Gruppe von Amnesty International aufgerufen. Öffentlich. In der Zeitung. Und der Name der Schule wurde auch noch genannt   –    Das ging zu weit!

Mit einem „Terroristenfreund“ wolle er nichts zu tun haben, tobte der Lehrer. Genau genommen, tobte er auf Schwäbisch – was angesichts einer solch gemütlichen Mundart als künstlerische Leistung anerkannt werden muss – und brüllte daher wörtlich „Terrorischtefreindle“. Aber es klang überhaupt nicht gemütlich. Das Wahre, Gute und Schöne ist in der Pflichterfüllung des Menschen zu finden, schrie er, nicht in „sogenannten Rechten“, und das gelte besonders für Deutsche. Wer von Menschenrechten fasele, sei ein vaterlandsloser Geselle und würde mit seiner Humanitätsduselei den Namen seiner Schule in den Dreck ziehen und die Namen aller aufrechten Deutschen noch dazu. Und das auch noch in diesen Zeiten, in denen der Russe vor der Tür stehe und Terroristen das Land bedrohten. Nur ein ausgemachtes Charakterschwein könne in solchen Zeiten die Gehirne mit dem Gefasel über Menschenrechte vernebeln, das sei doch dasselbe wie Drogen verteilen oder die Leute mit Pornos und perverser Musik verrückt machen, ereiferte er sich, sowas mache nur ein Unterwanderer, ein nützlicher Idiot feindlicher Geheimdienste, ein Berufs- Revoluzzer! Ein Staatsfeind!

Er brüllte laut, er brüllte lange, wurde immer röter im Gesicht und begann, mit Büchern um sich zu werfen. Erst mit dem Klassenbuch, dann mit den Inhalten seiner riesigen Aktentasche, die, weil er viel mehr ein Schwäbisch- als ein Deutschlehrer war, mit den Werken von Uhland, Hauff, Mörike und anderen Schlaftabletten vollgestopft war, die ihm sonst dazu dienten, seine Stunden in feierliche Hochämter für antiken Nationalstolz zu verwandeln – was durchaus besorgniserregend war, denn wenn ein Schwabe anfängt, kreischend mit Mörike um sich zu werfen, dann steht er nicht mehr am Rande des Nervenzusammenbruchs, sondern ist schon mittendrin wie Spätzle in der Soße. Solche Dreckskerle dulde er nicht in seinem Klassenzimmer, schrie er. Raus hier! Du hast Hausverbot! Lebenslang! Lebenslang! Und deine Kinder und Kindeskinder auch!

Ich war nicht besonders beeindruckt von der Stringenz seiner Argumente, aber doch von der Vehemenz, mit der sie vorgetragen wurden. Also verließ ich die Schule, sozusagen vorsichtshalber, um nicht verantwortlich zu sein für den explosiven Herztod eines Deutschlehrers, vor allem aber weil ich der friedensstiftenden Bedingung des Schuldirektors, den Aufruf zur Gründung einer Amnesty-Gruppe „doch ganz einfach zurückzunehmen“, nicht folgen wollte.

Außerdem waren mir Wutanfälle alter Männer mit einem politisch bedingten Blutdruckproblem nicht fremd. Wie viele andere meiner Generation kannte ich derartige Ausbrüche schon, schließlich waren wir mitten im Kalten Krieg, dessen Betonwände und Eisernen Vorhänge nicht nur an irgendwelchen Zonengrenzen herumstanden, sondern sich kreuz und quer durch die gesamte Gesellschaft zogen. Überall entlang der Grenzen waren Minen vergraben, die jederzeit hochgehen konnten, wenn man seinen eigenen Weg suchen und nicht auf den streng beschilderten Straßen unserer Eltern, Lehrer oder Professoren marschieren wollte. Bei uns in Deutschland lagen noch ein paar mehr Minen herum als anderswo, denn zu denen, die aus den Angstfabriken des Kalten Krieges stammten, gesellten sich noch die vielen hinzu, die aus den dunklen Kellern unserer Eltern und Großeltern übriggeblieben waren.

Das unrühmliche Ende meiner Schulkarriere hatte schon zwei Jahre zuvor begonnen, Anfang der 70er Jahre, an einer bayerischen Schule in Starnberg unweit von München. Damals war ich 16 Jahre alt und gehörte zu einem Kreis von Schülerinnen und Schülern, die einige Probleme mit jenen Minen aus der Vergangenheit hatten.

Wir wollten nicht länger von Leuten unterrichtet werden, die ihr Handwerkszeug in der Nazi-Zeit erworben und die, wie wir fanden, seitdem nichts dazugelernt hatten. Wir wunderten uns über unsere Geschichtslehrer, die begeistert und endlos über Karl den Großen oder den Alten Fritz schwadronieren konnten, aber nur schmallippig und wortkarg in ein paar Schulstunden durch das „Dritte Reich“ hetzten, als wäre jemand hinter ihnen her – nur war ja leider niemand hinter ihnen her. Wir rätselten über den Verstand von Deutschlehrern, die uns die Literatur der Kaiserzeit als „Moderne“ verkaufen wollten. Wir hatten Zweifel an der Qualifikation von Französisch-Lehrern, die ihre Sprachkenntnisse ausschließlich als Besatzungssoldaten in den Bordellen von Paris erworben hatten und uns soldatisches Liedgut übersetzen ließen, angefangen von „Lili Marleen“ bis hin zu „Es braust unser Panzer / Im Sturmwind dahin!“. Und wir fanden es bemerkenswert, dass der Direktor undisziplinierte Klassen, in denen es etwas lauter zuging, mit dem Ausruf „Hier geht es ja zu wie in einer Judenschule“ unter Kontrolle zu bringen versuchte.

Immerhin hatten wir lesen gelernt und eine Menge vernünftiger Bücher gefunden, die man unter der Schulbank oder außerhalb der Schule lesen konnte. Wir tauschten sie untereinander aus oder handelten damit wie mit Marihuana oder LSD, die man damals „bewußtseinserweiternde“ Drogen nannte – eine Bezeichnung, über die man sich bei Drogen vielleicht streiten kann, bei Büchern aber sicher nicht. Manche dieser Bücher handelten von der uralten Auseinandersetzung zwischen denen, die dank ihrer besseren Bewaffnung oder ihres schweizer Bankkontos über überzeugende Machtmittel verfügten und denen, die über gar nichts verfügten ausser ihrem verzweifelten Wunsch, in Würde zu überleben. Einige von uns lasen besonders über die Studentenunruhen von 1968, über den Bruch mit der Vergangenheit und die Sehnsucht nach einer anderen Gesellschaft. Sehr schnell kursierte ein Spruch, den man im Mai 1968 überall an den Mauern von Paris gesehen hatte: „Der Wind frischt auf, lasst uns versuchen zu leben“.

Genau das wollten wir. Also versuchten wir den Direktor unter Kontrolle zu bringen, indem wir gegen ihn auf der Straße demonstrierten – in der Zeitung hieß es, es sei im gutbürgerlichen Starnberg die „erste Demonstration seit den Novemberunruhen von 1918“ gewesen – aber wir hatten in Physik nicht aufgepasst und die Sache mit dem längeren Hebel falsch berechnet. Es flog zwar niemand sofort aus der Schule, aber unsere Noten wurden wie durch Zauberhand immer schlechter – und wenn einzelne Lehrer dabei nicht mitspielen wollten, wurden längst benotete Klassenarbeiten von der Fachaufsicht eingezogen und neu bewertet. Wenn das nichts half, hagelte es Suspendierungen für geringste Vergehen, womit der vorübergehende Ausschluss vom Unterricht gemeint war. Gegen legalisiertes Schulschwänzen ist zwar nichts zu sagen, dumm war nur, dass jede Schularbeit in dieser Zeit automatisch mit einer glatten 6 bewertet wurde. Es gab eine Menge Druck und langsam wussten wir nicht mehr, wie wir uns dagegen wehren sollten. Manchmal zweifelten wir auch schon daran, ob wir noch im Recht waren oder tatsächlich so verwirrt und verdorben, wie es unsere Lehrer von uns behaupteten.

In dieser Zeit kamen Referenten von Amnesty International an die Schule. Es war nur ein Zufall, der nichts mit unseren Konflikten zu tun hatte, sondern mit einem Projekttag über Lateinamerika, über die sozialen und politischen Konflikte dort und über die Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch Diktaturen. Manches davon kam uns ein bisschen bekannt vor, aber vor allem begegneten wir den ersten Erwachsenen in unserem Leben, die eine präzise Vorstellung von der Freiheit des Menschen hatten, die etwas zu sagen hatten über unsere Rechte, nicht nur über unsere Pflichten, und die dabei nüchtern und vernünftig blieben, ganz weit weg von all den ideologischen Verkrampfungen und den verfeindeten Lagern jener Zeit. Außerdem schienen sie unsere Lehrer nervös zu machen, mehr noch als die Demonstrationen, weil das, was sie da hören mussten, nicht nur in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen stand, sondern auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Das war interessant.

Wir nagelten an den Schuleingang ein Schild mit einer Aufschrift, die wir uns von den Grenzübergängen an der Berliner Mauer abgeschaut hatten: „Achtung! Sie verlassen den Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland!“ und gründeten eine Schülergruppe von Amnesty International.

Damit hatten wir uns allerdings noch verdächtiger gemacht, als wir es sowieso schon waren. Ein paar Wochen später holte mich mein Vater am Schultor ab, was er sonst nie tat, schon gar nicht in voller Uniform. Er war damals ein hohes Tier bei der Bundeswehr, setzte aber seine Privilegien sparsam ein und kreuzte nur dann im Dienstwagen auf, mit Standarte und Chauffeur und Adjutanten, wenn er eine wichtige diplomatische Funktion zu erfüllen hatte oder wenn, wie er sich militärisch knapp ausdrückte, „die Kacke am Dampfen“ war. Offenbar war die Kacke diesmal gewaltig am Dampfen, denn sein Blutruck war am Anschlag und an seinen Schläfen konnte man die Zornesadern pochen sehen.

Mein Vater war ein aufrechter Mann und eine durch und durch ehrliche Haut, aus der er aber dank seines leicht entflammbaren Temperamentes auch wie ein Artilleriegeschoss herausfahren konnte, sobald jemand seine im zweiten Weltkrieg in Sturmgewittern geschmiedeten Auffassungen von Ehre und Anstand in Frage stellte oder es wagte, an seinem Weltbild zu rütteln. Zu seinem Unglück wurde pausenlos daran gerüttelt und die Welt war übervoll von Themen, die wie Brandbeschleuniger auf seinen Blutdruck wirken mussten: Kommunismus (jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung); Russen (stehen immer vor der Tür); Langhaarige (alles Kommunisten); Drogen (eine Waffe der Kommunisten); Rockmusik (Gehirnwäsche der Kommunisten), Freie Liebe, Hippies, Homosexualität, Mini-Röcke, Kriegsdienstverweigerung, Pressefreiheit, Gleich-berechtigung, Demonstranten, Pazifismus, Ungehorsam, Pornofilme…: alles Tricks der Kommunisten! Die Reihe war endlos. Vor allem fürchtete mein Vater, ganz so wie meine Lehrer, um die „Jugend von heute“ – die es damals allerdings ebenso wenig gab wie zu irgendeiner anderen Zeit – und die in seinen Augen in der größten Not war, unterwandert und verwirrt und aufgeweicht durch die übermächtigen Feinde Sex, Drogen, Musik und Politik.

An diesem Tag war leicht zu sehen, dass er an einem dieser Themen schwer zu schlucken hatte. Ich rechnete mit dem größten Anschiss aller Zeiten – wenn er wollte, konnte mein Vater auf dem Kasernenhof ein komplettes Bataillon derart in Grund und Boden brüllen, dass die Stahlhelme davonflogen. Aber diesmal blieb er ganz leise. Gefährlich leise.

Er ließ mich wortlos in seinen Dienstwagen einsteigen und blätterte in einer Akte auf seinem Schoß. „Ich weiß jetzt endlich, warum du urplötzlich ein schlechter Schüler geworden bist“, sagte er. Und dann las er mir aus der Akte vor. Erst kamen die Namen und Adressen aller meiner Freunde. Dann die Adressen der Orte, an denen wir uns trafen, die Eisdiele, die Kneipe am See, der Sportplatz, die Disko im verlassenen Bootshaus, die Studenten-WG, der Badestrand…  Danach kam unsere Wohnung dran mit den Namen der Leute, die mich besuchten, Beschreibungen der Fahrräder, die vor der Tür standen, Nummernschilder von Mofas und Rollern und Autos, peinlicherweise auch die Personenbeschreibung und Namen der beiden Mädchen, mit denen ich gleichzeitig ging und die nichts voneinander wissen sollten (und meine Eltern schon gar nicht…). Zuletzt waren penibel alle Treffen der neuen Amnesty-Gruppe im evangelischen Gemeindehaus aufgelistet, einschließlich der Namen aller ihrer Mitglieder, Spender und Unterstützer.

Es waren ungefähr 20 Seiten in Schreibmaschinenschrift, aus denen er mir da vorlas; die Daten stammten aus mehreren Monaten und waren fast lückenlos. Dann folgten weitere Seiten mit politischen Bewertungen. In der Studenten-WG – die hier „Kommune“ genannt wurde – gäbe es jemanden, las er vor, der zum „Marxistischen Studentenbund Spartakus“ gehöre und einen Bart wie Fidel Castro trüge, eine meiner Freundinnen stamme aus einer Familie, die komplett sozialdemokratisch sei, während des Dritten Reiches im Exil gelebt habe und heute Willy Brandt unterstütze, mein bester Freund sei auf Veranstaltungen von „Anarchisten“ gesehen worden, zwei weitere Freunde hätten an Veranstaltungen gegen die CSU und ihren Bundestagsabgeordneten Franz Josef Strauß teilgenommen, die Band, in der ich spielte, würde Drogen anpreisen, gezielt anti-amerikanische Lieder spielen und zu ungezügeltem Sex aufrufen, und die Schüler, die das ganze Theater gegen den Direktor inszeniert hätten, seien alle mit den JuSos, der Friedensbewegung und sonstigen “Unterwanderern” verbandelt. Und, o ja, dieser ganze Menschenrechtskram und besonders diese obskure Organisation Amnesty International, bei der ich mich neuerdings herumtreiben würde, sei, und das wisse doch eigentlich jeder, nichts anderes als eine Schöpfung des sowjetischen Geheimdienstes KGB.  Das sei ja wohl der Gipfel  aller Gipfel – ausgerechnet sein Sohn ein russischer Agent!

Er schlug die Akte zu und sah mich an, noch immer puterrot, aber noch immer ganz leise: „Nein, nicht was du jetzt denkst“, sagte er, „ich schnüffele nicht hinter Dir her – aber andere beobachten Dich. Deine Schule hat den bayerischen Verfassungsschutz auf dich aufmerksam gemacht, weil Du Dich in den falschen Kreisen herumtreibst. Du bist unter faule Äpfel geraten, du hast dich anstecken lassen und musst jetzt die Folgen tragen“. Er holte Luft und erklärte mir, dass ich in diesem Schuljahr zum zweiten Mal durchfallen würde, das sei schon jetzt ausgemachte Sache und nicht mehr zu verhindern. Und in Bayern würde mich dann kein Gymnasium mehr aufnehmen. Er dächte auch gar nicht daran, mich in dieser staatsfeindlichen Umgebung zu lassen. Ab nächstem Jahr würde ich nebenan in Baden-Württemberg zur Schule gehen und dort von vorne anfangen. Ganz von vorne. Und damit basta.

Mir blieb keine Wahl, als zu gehorchen. Und als guter Soldatensohn den Befehl meines Vaters ganz wörtlich zu nehmen, nämlich an der neuen Schule „ganz von vorne anzufangen…“ – Die Attacke des Ulmer Deutschlehrers, so durchgeknallt sie auch war, kam also ganz und gar nicht überraschend.

Die Ulmer Amnesty-Gruppe gibt es übrigens heute noch. Die Schule leider auch. Nur der Deutschlehrer ist nicht mehr da. Aber neulich hat einer seiner Nachfolger  bei Amnesty angerufen und  auch wieder deutliche Zeichen des Zorns gezeigt – allerdings diesmal über seine Schüler. Die seien nämlich politisch ungebildet und desinteressiert, klagte er. Sie hätten nicht die geringste Ahnung über Menschenrechte, über das Grundgesetz und überhaupt über Politik  und Demokratie.  Das ginge aber gar nicht, fand er, und Unwissenheit sei doch der perfekte Nährboden für politischen Radikalismus oder so. Ob Amnesty da nicht irgendetwas tun könnte? Vielleicht einen Vortrag halten?  Oder  sogar an der Schule eine Amnesty-Gruppe aufbauen?

Selbstverständlich habe ich ihm zugesagt. Und selbstverständlich bin ich in meine alte Schule gegangen, um dort etwas über die Entwicklung und die Verteidigung der Menschenrechte zu erzählen. Weil die Zeiten sich geändert haben, wenigstens scheinbar, und weil es heute für den Verfassungsschutz kein Problem mehr sein sollte, wenn jemand über Menschenrechte in und das Grundgesetz redet.

Aber weil ich selbstverständlich auch ein guter Deutscher bin, habe ich danach, mitten im freundlichen Gespräch mit dem Deutschlehrer und seinem Direktor, die Schulsekretärin gebeten, bei der Polizei anzurufen.

Weil Ordnung nun einmal sein muss und weil ich mich selbst anzeigen wollte. Wegen des lebenslangen Hausverbotes. 

 

 

Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus :

Dass wir heute frei sind… – Ein Lesebuch zum 50. Geburtstag von Amnesty International

Herausgegeben von Urs M. Fiechtner und Reiner Engelmann

im Verlag Sauerländer, März 2011